Das Leben - so schön, so schwierig
Sülz. Im großen Mythenwald geht man leicht verloren. Allerdings nutet man nach allerhand Verirrungen und dramatischen Verwirrungen in aller Regel auch wieder hinaus und zu sich selbst. Genau so zeigt es der Künstler Grigory Berstein in seinem großen Skizzenbuch vom Mythenwald, ausgestellt in der Freiraum Galerie. Wir erleben auf den 28 Blättern einen Künstler, der so ziemlich alles zum Ausdruck bringt, was das Leben so schwierig und so schön, so verführerisch und so abgründig macht. Das sind die Tänze des einen mit dem anderen Geschlecht. Das ist die Bedrohung durch wilde Tiere, sind Aggression und Gefräßigkeit. Das ist die Gewalt bei der Auseinandersetzung der Kämpfer. Das sind bissige Hunde, in Starre verpuppte Menschen und Men-
„ Die verführerische Kraft der Sirenen, die Gewitzheit des Odysseus, die Monströsität des Zyklopen sind noch immer mitten unter uns
schen, deren Energien explodieren wie Vulkane. Das ist das Ausgeliefertsein des Kindes in den Fängen eines Erwachsenen. Oder, anders betrachtet, der Kleinen in den Fängen der Großen. Das ist der Weg durch den unwegsamen Wald auf der Suche nach Licht und einem Ausweg. Das ist das Eintauchen des Menschen in die dunkle Nacht und sein Verschwinden im Nichts. Das alles sind Motive. 7.11 denen jedem Betrachter zugleich Erzäh-
lungen einfallen, griechische Mythen, germanische Legenden oder Märchen aus der abendländischen Kulturgeschichte. Dazu kommen Erinnerungsgeschichten, die mit plötzlicher Wucht lange vergessene Erlebnisse aus dem Unbewussten an die Oberfläche des seelischen Geschehens spülen — unheimlich und geheimnisvoll
wie Träume treten die Motive vor
Augen, in einigen Bildbereichen
von beunruhigender Klarheit, in
anderen diffus-wirr. Die erzählerische Dimension in Bersteins Kunst ist von faszinierender Kraft. Zugleich aber besticht die zeichnerisch-malerische Machart seiner Werke. Ein lockerer. ungezwungener Strich folgt der anatomischen Sicherheit eines meisterlich ausgebildeten Künstlers. So treibt Berstein mit aufgeregter expressiver Rotzigkeit die Darstellungen der menschlichen Figur, von Tieren und Gegenständen genau in jenen
Bereich. wo sie brüchig werden. Das ist der Punkt, wo größte Leichtigkeit und größte Unsicherheit nicht voneinander zu trennen sind. Immer wieder spüren wir in Bersteins Bildern die ganze Dynamik der Erregungen und Ängste, die im Menschen wirksam sind. Es sind die elementaren Kräfte unserer Existenz, die sichtbar werden. Es sind, so zeigt Berstein. ambivalente Regungen, die in Tragik, Komik und allerhand Paradoxien
münden und seit Jahrtausenden das Menschlich-Allzumenschliche ausmachen. Trotz aller modernster Techniken und aller so genannten Fortschritte hat der Mensch sich kein bisschen davon entfernt, so Bersteins künstlerisch vorgebrachte Erkenntnis. Die Gewitzheit des Odysseus. die Monströsität des Zyklopen, die verführerische Kraft der Sirenen sind ebenso wie die Tragik Medeas, Siegfrieds oder der Troereinnen als Erfahrungen noch immer mitten unter uns.
So zeigt Grigory Bersteins Skizzenbuch. dass wir uns auch im 21. Jahrhundert noch immer mitten im Wald der alten Mythen befinden. Das retten irrt die Macht des aufgeklärten Denkens, vor allein des allzu eindimensionalen, funktionalistischen Denkens über den Menschen.
Bersteins Blick auf die Mythen bekräftigt die sinnliche Dimension des Lebens, die Vieldeutigkeit von Handlungen und die Anerkennung, dass das Leben kuriose Wendungen nehmen kann und nicht von der Geburt bis zum Tod planbar ist. Dazu gehört auch der Zweifel, ob sich diese Erfahrungen mit neuen digitalen Medien überhaupt von einer Generation zur nächsten transportieren lassen.
Grigory Berstein wurde im Jahr 1948 in Moskau geboren. Er besuchte die Kunstakademie in Moskau. Seit dem Jahr 1981 arbeitet er als freiberuflicher Künstler und Buchillustrator. Seit dem Jahr 1991 lebt er in Köln.